And we’ll Keep on Fighting …

MTST-Protestcamp „Povo Sem Medo“, São Paulo, Brasilien, 2017–2018 Foto: Mídia Ninja, 1. Oktober 2017

Dass bei groß und lang angelegten Protesten viel Organisation notwendig ist, liegt eigentlich auf der Hand – doch welche Art von architektonischem Knowhow dahintersteckt, ist schon weniger offensichtlich. In einer Ausstellung im Wiener MAK „Protestarchitektur – Barrikaden, Camps, Sekundenkleber“ wird derzeit ausgeklügelten Konstruktionen, die öffentliche Proteste begleiten, nachgespürt – darunter Baumhäuser, kombiniert mit Bodenstrukturen, aufgestelzte Plattformen, Zeltstädte, Barrieren, Hängebrücken und Monopods.

Der Untertitel „Barrikaden, Camps, Sekundenkleber“ vermittelt bereits einen Eindruck über die vielfältigen Mittel, mit denen Protest auf materieller Ebene verwirklicht wird.
Die Ausstellung nähert sich dem Thema geografisch von vielen Seiten und greift historisch bis zur Julirevolution 1830 in Paris zurück. Zentral sind jedoch die politisch und ökologisch motivierten Proteste der jüngeren Geschichte. Sie veranschaulichen kreative Vielfalt und flexibel eingesetztes Wissen sowie architektonische und strategische Zusammenhänge.
Mit minutiösen Modellen vermitteln die Gestalter:innen eine Vorstellung des größeren Bildes, ergänzt durch Videos, Fotos und Objekte. Die Ausstellungsgestaltung wurde von Something Fantastic entwickelt.

Menschenrechte

Gezeigt werden Protestarchitekturen wie etwa auf dem Majdan in Kiew, der während der gewalttätigen Auseinandersetzungen zu einem Bollwerk wurde. Anschaulich wird auch, mit welchen Mitteln beim Kreisverkehr am Tahrir-Platz, eine „sichere Zone“ gegen die Eingreiftruppen der Regierung eingerichtet werden konnte. Völlig anders organisiert war eine Autobahnblockade in Delhi, die aus zu Wohnungen umgebauten landwirtschaftlichen Fahrzeugen bestand, mit der 16 Monate lang die Autobahn lahmgelegt wurde. Wieder anderen Konzepten folgten Zeltstädte wie bei „Occupy Wall Street“ in New York und den Umbrella-Protesten in Hongkong. Auffallend ist bei vielen Protestcamps gegen Naturzerstörung, dass sie mit Bodenstrukturen arbeiten, die über 2,5 Meter in die Höhe gebaut sind, etwa in Lützerath oder den Aktionen von Extinction Rebellion. Durch die Höhe wird polizeiliches Eingreifen erschwert und verzögert, denn ab 2,5 Meter benötigt die Polizei Spezialkräfte.

Lützerath, Bundesrepublik Deutschland, 2020–2023. Foto: Anna-Maria Mayerhofer, 30. Mai 2022

Die Modelle ermöglichen den Besucher:innen einen Eindruck der durchdachten architektonischen Interventionen mit minimalistischen Mitteln. Sie wurden an der Technischen Universität München und der Hochschule für Technik Stuttgart (Prof. Andreas Kretzer) gebaut und bilden Protestcamps, die auf Straßen errichtet wurden, ebenso ab, wie etwa die im Naturraum errichteten Installationen „Lobau Bleibt!“. Seitens der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe wurden die „Bodenstrukturen“ und Pfahlbauten in Lützerath modelliert.

Naturschutz

Die „Lobau-Bleibt!“-Proteste sind auch im Film von Christoph Schwarz über die Räumung des Protestareals und von Oliver Ressler, „Die Wüste lebt“ präsent. „Wüste“ war die Bezeichnung des vorgesehenen Bauareals für die Lobau-Autobahn. Der Film dokumentiert Gespräche und Aktionen während 5 Monaten und ein Hauptsymbol, die dreistöckige Holzpyramide, die der Versammlungsort war. Im Jahr 2022 wurden auf Geheiß der Stadt Wien zwei der Camps gewaltsam von der Polizei geräumt und abgerissen.

Lobau-bleibt!-Proteste, Wien, Österreich, 2021–2022. Foto: © Merle, 9. Dezember 2021

Das Thema Schutz des Naturraums war auch Anlass der Proteste in der Bundesrepublik im Hambacher Wald. Die Waldbesetzung richtete sich gegen den weiteren Ausbau des Braunkohle-Tagebau des deutschen Energieunternehmens RWE, das auf seiner Website mit dem Slogan wirbt: „Our energy for a sustainable life.“
Die Protestbewegung begründete ihren Widerstand gegen umfassende Waldrodungen sowie die Räumung bestehender und bewohnter Dörfer „Ein Kampf für Klimagerechtigkeit, für Antifaschismus und für die Zukunft kommender Generationen”, ähnliche Motive wie in den “Lobau bleibt!” Aktionen. Ein beeindruckendes Modell zeigt im Maßstab 1:10 das Barrios Beechtown, eine märchenhaft anmutende Siedlung in den Baumkronen, die Teil der Waldbesetzung war. Auch ein Modell der Hängebrücke aus dem Hambacher Wald ist in der Ausstellung zu sehen. Von einer Hängebrücke war der Journalist Steffen Maynin in die Tiefe gestürzt, als er auf dem Weg nach einer geeigneten Position zum Filmen einer behördlichen Räumung an einen höheren Ort klettern wollte.

Hambacher Wald, Deutschland, Baumhaussiedlung im Hambacher Wald, 2012–. Foto: © Tim Wagner, 26. Mai 2019

Die Waldsiedlung mit ihren zahlreichen Verbindungen in den oberen Bereichen der Baumkronen, demonstriert ein Konstruktionswissen, das in üblichen Bauprojekten eher selten verwendet wird. Inspirierend und märchenhaft wirken diese filigranen Gebilde. Immer wieder haben Naturschützer:innen auf derartige, direkt mit dem Wald verbundene Leichtkonstruktionen gesetzt. Es sind temporäre Behausungen, deren Bestandteile sich wieder verwenden lassen.

Artenschutz

Auch ein Beispiel einer über 5 Meter hohen Tensegrity Konstruktion, wie sie von der Wiener Abteilung der Tier- und Naturschutzorganisation Extinction Rebellion verwendet wurde, findet sich in der Ausstellung. Tensegrity-Architektur greift auf eine Form der Zugarchitektur zurück, bei der die einzelnen Elemente durch das Gleichgewicht der auf sie einwirkenden Zug- und Druckkräfte an Ort und Stelle gehalten werden. Das Kunstwort von Buckminster Fuller besteht aus “tension” und “integrity” und bedeutet demnach “Spannungsintegrität”. Innerhalb weniger Minuten können mit dieser Methode drei Stockwerk-hohe Türme aus Bambus und Stahlseilen errichtet werden. Die Protesttürme von Extinction Rebellion greifen nachhaltige Motive der High-Tech-Architektur auf.

Umbrella Movement, Hongkong, 2014. Foto: © Vicky Chan, 12. November 2014

Protest der Vernunft

Erschreckend ist, dass in allen Fällen die Themen vollkommen vernünftig sind, gegen die von Staatsseite so vehement vorgegangen wird. Ewa in der Lobau. Oder im Hambacher Forst – wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen für einen Beibehalt von Primärwäldern, wohingegen der Kohleabbau längst der Vergangenheit angehören sollte. Wie konservativ bzw. die Politik häufig agiert, lässt sich mit sinnvollen Argumenten nicht erklären. Eher mit einem Festhalten an traditionellen Vorstellungen und Vorteilsverschaffung für die eigene Klientel.
Gleiches gilt selbstverständlich für Befreiungs– und Emanzipationsbewegungen. Die Gewalt, mit der vermeintlich demokratische Exekutiven gegen demokratisch Andersgesinnte vorgehen, die damit nicht selten ihr Leben riskieren, ist erheblich. Das Wissen darüber sollte zur Allgemeinbildung aufgeklärter Bürger:innen gehören.

Die Historien der jeweiligen Protestbewegungen, inklusive der Erfolgs – bzw. Misserfolgs-Geschichten sind ebenfalls dargestellt. Die begleitende Publikation erläutert die Proteste von 1830 bis 2023 und ist wie ein Lexikon angelegt.

Die Ausstellung ist eine Kooperation des MAK (Museum für Angewandte Kunst Wien) und des DAM (Deutsches Architekturmuseum Frankfurt am Main).

Protestarchitektur – Barrikaden, Camps, Sekundenkleber
Bis 25. August 2024
MAK – Museum für Angewandte Kunst Wien
Stubenring 5, 1010 Wien

www.mak.at/protestarchitektur

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